Leseprobe „Zahlenrätsel“

Das ehemalige Gebäude in der Amtstraße in Schwerin, in dem die Volkspolizei vor und bis kurz nach der Wende untergebracht wurde.
Stadt Schwerin Zwo (Amtstraße)

Kapitel 1

„Wenn irgendwo zwischen zwei Mächten ein noch so harmlos
aussehender Pakt geschlossen wird, muss man sich sofort fragen, wer
hier umgebracht werden soll.“

Otto von Bismarck

3. April 2003

 Thomas Haller, Kriminal-Hauptkommissar, war vor der Wende bereits Polizist bei den VoPo’s im Rang eines Hauptmanns. Dann kam 1991 die Polizeireform in dem neugegründeten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und er war Kriminal-Hauptkommissar in einer A14-Stelle, verbeamtet, vereidigt, aber immer noch im Schwerin Stadt Zwo, wie sich das Kommissariat in der Innenstadt in dem altertümlichen Gebäude in der Amtstrasse nannte. Das Gebäude war im vorletzten Jahrhundert eine große Speicherscheune und Stallung auf einem landwirtschaftlichen Gutshof gewesen und hatte deswegen seinen baulichen Charakter aus Gründen des Denkmalschutzes beibehalten. Innen war Schwerin Stadt Zwo schon mehrfach umgebaut worden. Das vorletzte Mal schon 1987 zu DDR-Zeiten, als die elektronische Datenverarbeitung in die Büros von Kriminalkommissariaten im Bezirk Rostock Einzug hielt. Das letzte Mal 1992 mit einer allumfassenden Modernisierung nach westlichen Standards. Und inzwischen schrieb man das Jahr 2003. Die elf Jahre Gebrauchsspuren waren deutlich zu erkennen und es wäre an der Zeit gewesen, wenn man der Hansestadt Schwerin ein neues Stadtkommissariat geschenkt hätte.

  Doch davor war das 1991 neu gegründete Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern am Ostufer des Schweriner Sees in Rampe. Mit ihm musste das Schweriner Stadtkommissariat ständig konkurrieren. Dem Landeskriminalamt hatte man die allerneusten Handwerkszeuge für die Verbrechensbekämpfung im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern angediehen. Und die fehlten einfach im Stadtkommissariat. Deshalb drängte man in den oberen Etagen des Landeskriminalamts darauf, das Stadtkommissariat endlich abzuschaffen. Stattdessen bekam Schwerin Stadt Zwo einen neuen Chef aus dem Westen. Doktor jur. Gregor Herzog, Polizeioberrat, Gehaltsstufe B1a, Die Kollegen vom Schweriner Stadtkommissariat hatten ihn lange und aufmerksam beäugt, denn plötzlich einen Westler vor die Nase gesetzt zu bekommen, das konnte den eingefleischten Mecklenburgern nur schwerlich bekommen. ‚Seid doch froh, dass Ihr nur einen aus dem Westen bekommen habt. Wir haben hier Hunderte!‘, hieß es bei der Rampe-er Konkurrenz. Haller konnte das alles nicht beeindrucken. Er war sich seiner genug und war froh, dass er sein Büro mit seinem alten Kameraden Günter Grosche teilen konnte.

  Grosche war zwei Jahre jünger als sie sich kennen lernten. Da waren sie beide zur Zollpolizei bei den Grenzern zugeteilt worden. Grosche war bei Haller in der Ausbildung. Die Zollpolizei war eine kleine exklusive Truppe, die ihre Befehle von der Partei und vom Ministerium für Staatssicherheit bekam. Anders als die Grenzer von der NVA hatten Haller und Grosche nachrichtendienstliche Aufgaben. Nur selten wurden sie zum Streifendienst an der Mauer angefordert. Grosche kam dann zwei Jahre später zu den VoPo’s und seit vier Jahren war er endlich auch Kriminalhauptkommissar. Aber trotz der Wende, oder vielleicht gerade aus dem Grund, waren Haller und Grosche ein gut geöltes und eingespieltes Team.

Es war der Morgen des 3. März 2003. Das sagte jedenfalls die Datumsanzeige von Thomas Hallers Funkwecker, der erst leise vor sich hinzu-piepsen begonnen hatte, dann mit fortschreitender Zeit immer lauter und fordernder darauf hinwies, das es nun nach 7:00 Uhr Morgens war und sein Besitzer, der immer noch schnarchend auf dem Rücken lag, endlich aufwachen möge. Im Halbschlaf tastete Hallers Hand nach dem Wecker und drückte auf die Schlummertaste. „Nur noch fünf Minuten“, brummte er missmutig, wohl wissend, dass er den Traumfaden, den er gerade durch sein Erwachen verloren hatte, nicht wieder aufnehmen konnte. Doch keine Minute später ertönte erst das brummende Vibrieren seines Handys, dann der eigentliche Klingelton und Hallers Hand war wieder suchend unterwegs, bis es das Handy zu greifen bekam. Missmutig öffnete er seine Augen einen Spalt breit und las den Schriftzug GROSCHE. Er nahm das Gespräch an und hielt sich erstaunlich kompliziert den Arm über seinen Kopf gebeugt das Handy ans Ohr.

  „Was ist los Grosche?“

  „Hast Du etwa noch geschlafen?“

  „Was machst Du, wenn Du im Bett liegst?“

  „Auf keinen Fall Halma spielen“, kam es prompt zurück.

  Haller grunzte, räusperte sich und Haller versuchte sich umständlich aufzurichten, während neben im der Funkwecker bereits zum zweiten Mal aufbegehrte. Mit der anderen Hand klopfte er auf die Ausschalttaste.

  „Ruhe, ich telefoniere!“

  „Du sprichst mit Deinen Haushaltsgeräten?“, hörte er Grosche auf der anderen Seite frotzeln. „Du solltest Dir bei Gelegenheit mal wieder eine Frau anschaffen“.

  „Das lass mal meine Sache sein. Also, weswegen rufst Du an?“

  „Der Kriminaldauerdienst hat gerade angerufen. In der Papeterie Fischer in der Schlachterstraße liegt eine Frauenleiche. Beamten sind vor Ort, sperren ab und halten das Volk im Zaum. Trotzdem sollen wir auch noch kommen“.

  Wenn der Kriminaldauerdienst, kurz KDD, anrief, dann hatte das meist seine Ursache darin, dass Leib und Leben betroffen waren, also eine Bedrohung, Körperverletzung oder gar ein Tötungsdelikt vorlag. Wurde das Delikt innerhalb der Stadtgrenze von der Hansestadt Schwerin begangen, dann war das „Stadtkommissariat Zwei“ oder auch „Schwerin Stadt Zwo“ genannt, der Ansprechpartner für den KDD. Alle Fälle, die „Schwerin Stadt Zwo“ zu bearbeiten hatte, wurden dabei argwöhnisch vom Landeskriminalamt am Ostufer des Schweriner Sees beäugt und man war jedes mal neidisch auf die Kernkompetenz des Stadtkommissariats.

  „Dann müssen wir wohl mal …“, stöhnte Haller vor sich hin, als er sich vom Bett aufrichtete und an der Bettkante sitzend nach seinen Wildleder-Hausschuhen suchte.

  Das, mit den Wildlederhausschuhen, hatte seine besondere Bewandtnis. Seine Ex-Frau Hildegard, von Beruf Kinderärztin im Krankenhaus Leezen, war immer schon ein Organisationstalent. Bei einem Besuch in der Kaufhalle Schwerin, dem Kaufhaus in der Innenstadt, erhaschte sie im Gespräch zweier Verkäuferinnen, dass es in der Kaufhalle in der Karl-Liebknecht-Straße im fernen Berlin sehr schöne Wildleder-Hausschuhe gäbe. Also besorgte sie sich eine Fahrkarte und fuhr an ihrem nächsten freien Tag nach Berlin und ergatterte noch das letzte Paar Wildleder-Hausschuhe, das noch vorhanden war. Das war zwar zwei Nummern zu groß, aber immerhin konnte Hildegard ihrem Thomas zu seinem Geburtstag einen langgehegten Wunsch erfüllen. Und auch wenn die DDR weg war, Hildegard sich kurz nach der Wende hatte scheiden lassen und er seit dem alleine in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung in der Johannes-Brahms-Straße in der Schweriner Weststadt wohnte, so waren diese Wildleder-Hausschuhe etwas, was ihm innerlich Beständigkeit verlieh.

  „Ich komme dann in die Schlachthaus-Straße“, antwortete Grosche auf der anderen Seite und legte auf.

  Als Haller damals zum Unterleutnant ernannt worden war und bei der Kriminalpolizei der DDR anfing und nicht wusste, welches Ressort er sich aussuchen solle, da fragte er einen seiner Ausbilder und der sagte „Mord geht immer!“. Also schlurfte der junge Unterleutnant Thomas Haller zum Dezernatsleiter der Abteilung ‚Verbrechen gegen Leib und Leben‘, wie das Mordkommissariat offiziell genannt wurde, und bewarb sich dort. Natürlich hatte er, bis er endlich nach elf langen Jahren zum Oberleutnant ernannt wurde, noch keine Leiche mit eigenen Augen an ihrem Fundort betrachten können. Die Arbeit bestand im langweiligen Abtippen von Berichten und das Pflegen der Akten. Sein allererster Fall von Tötungsdelikt war der ungeklärte Todesfall einer einsamen, alten Witwe in einem Schweriner Altenheim. Und der stellte sich als ein äußerst delikater Giftmord heraus, weil – und das gab es in der DDR offiziell nicht – ein Arzt die alte Frau mit Luminal tot-gespritzt hatte. Über Tage hinweg hatte er ihr das Präparat Luminal gespritzt, bis die Frau an den Folgen einer Lungenentzündung verstarb. Der Arzt war schon zu Zeiten des Hitler-Reiches Arzt gewesen und hatte sich immer gewünscht, er dürfe in einem der schrecklichen Konzentrationslager arbeiten. Doch das jähe Ende des Zweiten Weltkriegs machte ihm einen Strich durch die Rechnung und er musste sich bemühen, hinterher wenigstens eine auskömmliche Stellung zu finden. Als er dann in dem Altenheim als Stationsarzt arbeitete, las er über Mengele und seine Helfer und wie sie alten, gebrechlichen und geistig behinderten Menschen Luminal spritzten, um sie zu töten. Und daraus hatte sich letztlich seine Lust am Töten entwickelt. In der Öffentlichkeit, also in den vorgefertigten Nachrichten der ADN, dem partei-gehorsamen Presseorgan, kam natürlich nichts über die wahren Beweggründe der Tat ans Tageslicht und schon gar nicht in die Zeitung. Noch nicht einmal, dass man den Arzt lebenslang hinter Gitter brachte und ihn dann in Bautzen einsperrte. Die Frau war einfach überraschend an einer Lungenentzündung gestorben.

   Haller gönnte sich ein kurzes Frühstück, zog sich an, legte sein Schulterholster an und holte aus seinem kleinen Tresor seine Waffe, um sie dann ins Schulterholster zu stecken. Dann verließ er seine Wohnung im zweiten Stock und traf auf der Treppe noch eine junge Nachbarin, die in der Wohnung unter ihm mit ihrem vietnamesischen Freund lebte, und trat hinaus in die erste morgendlich warme Frühlingsluft. Sein alter Volvo 244, den er sich kurz nach der Wende angeschafft hatte, stand immer noch in seiner orange-gelben Farbe vor dem Haus auf dem Parkplatz und wartete darauf, endlich wieder in Bewegung versetzt zu werden. Haller stieg ein und stellte fest, dass er seinen Dienstausweis im Tresor vergessen hatte und musste noch einmal zurück in seine Wohnung, um ihn zu holen. Dann konnte es losgehen.

  Morgens von der Schweriner Weststadt in die Altstadt zu kommen, egal, ob nun in die Amtstraße, wo sich „Schwerin Stadt Zwo“ seine Heimstatt hatte oder in die nahegelegene Schlachterstraße, etwas westlich davon, er brauchte gut zwanzig Minuten im Stopp and Go.

  Haller stellte seinen Volvo auf der linken Straßenseite auf eine Lücke zwischen parkenden Autos, weil er so bequem auf der Bürgersteigseite aussteigen konnte. Ein Polizist, der gut zehn Meter entfernt am Flatterband das Guckvolk abhalten sollte, schaute ihm kopfschüttelnd in die Augen. Denn diese Lücke war eine Einfahrt und zudem noch im absoluten Halteverbot. Haller ignorierte den indignierten Blick des jungen Schutzpolizisten, im Rang eines Polizeiobermeisters, wie seine Schulterstücke ihn auswiesen. Und dann legte er einfach ein laminiertes Schuld vor die Windschutzscheibe, auf dem deutlich zu lesen war: POLIZEI IM EINSATZ.

  Kaum war er ausgestiegen, kam auch Günter Grosche mit seinem vor einem Jahr neu erworbenen BMW 5er E39 herbei, dessen Dieselmotor sich eher wie ein landwirtschaftliches Arbeitsgerät anhörte, aber nicht wie eine moderne Mittelklassen-Limousine.

  „Dann wollen wir mal“, sagte Grosche beim aussteigen und sie gingen zu dem blau-weißen Flatterband, das die Schutzpolizei im Abstand von rund fünfzig Metern zum Ort des Geschehens aufgespannt hatten. Es war nämlich erstaunlich, wie viele Menschen schon am frühen Morgen sich der Suche nach Sensationen hingeben konnten. Aber rund sechzehn Prozent Nicht-Erwerbstätige, wie es offiziell in den Papieren der Landesregierung lautete, hatten eben nichts weiter zu tun, als darauf zu warten, dass endlich etwas spektakuläres geschehen möge.

  Der junge Polizeiobermeister am Flatterband hielt ihnen das blau-weiße Band hoch, als sie sich mit ihrem Ausweiskarten legitimiert hatten. Dann gingen sie auf die rechte Straßenseite zur Papeterie Fischer, wo zwei weitere Schutzpolizisten Posten bezogen hatten. Die Eingangstür dahinter stand offen und als sie ins Innere traten, sahen sie einen gewöhnlichen Schreibwarenladen, mit allerlei Krimskrams, mit dem man vor allem Kinder zum Kauf anlocken wollte und erst als Haller hinter dem Türrahmen zum hinteren Flur einen weißen Overall eines Technikers von der Kriminaltechnik Rostock erblickte, war er sich klar darüber, wo der Fundort der Leiche wohl zu suchen sei. Er bevorzugte in seinen Berichten gerne das Wort Fundort, denn der Fundort einer Leiche oder eines Verletzten musste nicht zwingend auch der Ort sein, an dem die Tat begangen wurde. Und erst als sie den Flur durchschritten hatten, vorbei an einigem an deutlichen Blutspuren, die von dem Kriminaltechniker mit einem Wattestäbchen abgetupft wurden, um später zweifelsfrei sagen zu können, das Blut gehöre zum Opfer oder zum Täter, da sah er zwei Damenschuhe hinter einem Schreibtisch hervor schauen. Da lag also Frau Hermine Fischer. Sie wurde nur 57 Jahre alt, und lebte seit ihrer Trennung im Jahr 1982 nun selbst auch einundzwanzig Jahre alleine, wie auch Haller, den das selbe Schicksal ereilt hatte. In dem Büro war, so Haller und Grosches erster Überblick, nichts verändert worden. Alles schien wohl organisiert. Haller fiel auch gleich das große Bücherregal auf, welches randvoll mit hunderten von Büchern war, alle schön säuberlich nach Autorennamen sortiert. Hier wurde allem Anschein nach nichts entwendet. Auch in den anderen Räumen, die er vorher gesehen hatte – das Ladengeschäft zur Straße hin, der Flur und ein Lagerraum zur Linken – zeigten keinerlei Spuren eines Raubmords. Also schaute sich Haller nach dem Gerichtsmediziner um, den er jedoch nicht entdecken konnte. Dann trat einer der weißgekleideten Männer an ihn heran.

  „Keine Stunde her, das Ganze“.

  Haller wunderte sich, dass ein Techniker sich zum Todeszeitpunkt äußerte. Da zog der weißgekleidete Mann, der gut einen Kopf kleiner als er selbst war, seine Handschuhe aus und reichte Haller die Hand zum Gruß.

  „Doktor Zimmermann, aus Rostock“.

  Haller wunderte sich doch sehr, dass Techniker und der Gerichtsmediziner aus Rostock schon da waren, als er gegen 7:35 Uhr in der Schlachterstraße angekommen war.

  „Sehr erfreut“, erwiderte Haller und nahm die Hand die ihm zum Gruß entgegen gestreckt wurde. „Wie kommt’s, dass Sie schon so früh da sind?“

  „Ganz einfach, wir hatten gestern eine kleine Feier beim LKA, wegen der Einweihung der SEK-Außenstelle des LKA in Laage“.

  „Aha, hat man im SS2 gar nichts gehört“.

  „Liegt das vielleicht an der schlechten Kommunikation mit dem LKA?“

  Haller verkniff es sich, auf die Spitze einzugehen. Es war ärgerlich genug, dass man keine eigene Rechtsmedizin mehr in Schwerin hatte und auch das Kommissariat Schwerin Stadt Eins, da wo der für die Hansestadt Schwerin amtierende Polizeipräsident auf seinen Ruhestand wartete. Wenn er demnächst aus dem Amt scheiden würde, war sicher, dass die Stelle nicht mehr neu besetzt würde. Doktor Gregor Herzog war sicher damals mit der Intention nach Schwerin gekommen, später einmal den Polizeipräsident beerben zu können. Aber das stand letztlich in den Sternen.

  „Was haben wir hier?“

  Grosche ging gerne in medias res, wenn niemand damit rechnete.

  „Moin, moin, Grosche“, kam es plötzlich aus dem Hintergrund. Die weibliche Stimme gehörte der Fotografin Karin Siebe von der KT Rostock. Grosche drehte sich sofort um.

  „Moin, moin, Karin. Hast Du nachher noch einen Moment?“

  „Dann mach hinne, wir sind hier gleich fertig“.

  „Und?“, wollte Haller von der Technikerin wissen. „Einbruchspuren?“

  „Leider nichts zu finden. Die Frau Fischer muss die Tür selbst aufgeschlossen haben. Jedenfalls war sie wohl damit beschäftigt, die Werbeaufsteller und den Fahrradständer, der noch vorne im Verkaufsraum steht, hinauszutragen.“

  „Hm!“ Mehr brachte Haller im Moment nicht hervor. „Danke dafür“.

  „Nicht dafür. Bis nachher, Grosche!“

  „Also“, meldete sich Doktor Zimmermann, der Gerichtsmediziner räuspernd zu Wort. „Wollen Sie nun was von mir wissen?“

  „Denn man tow!“, sagte Grosche.

  „Also, die Tote ist vor zirka einer Stunde verstorben. Beginnende Totenstarre. Ein Stich mit einem Dorn oder einem spitzen Gegenstand, vielleicht ein Brieföffner oder so etwas. Direkt in die linke Herzkammer, hindurch durch die linke achte und neunte Rippe, also so …“ Doktor Zimmermann deutete es bei sich selbst an, „… im leichten Winkel nach oben. Ein sehr gezielter Stich, ich tippe deshalb auf einen Profi. Alles Nähere dann bei und nach der Obduktion in Rostock. Ich habe schon den Bestatter gerufen, der soll den Leichnam dann in mein Institut befördern. War’s das?“

  „Aber immer doch“, kam es flapsig von Grosche. „Wir melden uns, wenn wir Fragen zum Bericht haben“.

  „Was meinst Du?“, fragte Grosche an Haller gerichtet.

  „Also, falls das keine einstudierte Choreographie war, dann ist der oder die Täterin auf alle Fälle kleiner als Frau Fischer gewesen. Wie groß mag sie sein?“

  Grosche schaute sich die seitlich auf dem Bauch liegende Tote an.

  „Ich schätze, sie ist so eins fünfundsiebzig bis eins achtzig groß“. Grosche überlegte. „Du, was ist, wenn das ein Regenschirm oder ein Spazierstock war? Du weißt schon, diese Klabautermann-Spazierstöcke mit dem Stilett im Griff?“

  Haller versuchte die Bewegung nachzumachen.

  „Du meinst also so, in einer leichten Drehung nach oben?“

  „Ja, aber da musst Du sehr geübt sein. Wie unser Doktor Zimmermann eben sagte, ein Profi“.

   Sie machten den Trägern vom Bestatter Platz, damit die mit ihrem Kunstoffsarg hantieren konnten, um den Leichnam von Frau Hermine Fischer in die Gerichtsmedizin nach Rostock-Laage zu bringen.

  „Schauen wir uns ein wenig um“, sagte Haller und ging an den Türen im Flur vorbei. Jede einzelne Türe öffnete er dabei, zuerst die Tür rechts. Dahinter ein Warenlager. Aber auch hier war nichts auffälliges zu entdecken. Hinter der nächsten Tür links war eine Toilette. Auch hier sah alles ganz normal aus. Aber überall im Flur, an den lackierten Türstöcken, waren Blutspuren, wohl von Frau Fischers Händen zu sehen. Also muss sie aus dem Verkaufsraum gekommen sein. Haller leuchtete mit seinem Maglight, das er sich im Internet bestellt hatte, den Boden ab. Einzelne Blutstropfen, mit roter Signalfarbe eingekreist, offensichtlich von den Technikern, die sie beide bis zu dem Freiraum vor der Ladentheke verfolgen konnten, wo auch der Fahrradständer zu finden war. Hier musste sie also gestanden haben und wurde dann von dem Täter entweder überrascht oder sie haben sich sogar unterhalten.

  „Sehr mysteriös. Ich denke, sie hat den oder die Täterin gekannt“, konstatierte Grosche.

  „Hier ist jedenfalls offensichtlich nichts gestohlen worden“, sagte Haller, als er sich über die Registrierkasse beugte. Da waren keine Spuren von Manipulation zu erkennen. Ganz im Gegenteil, die Kasse schien recht neu zu sein. Ein Datenkabel führte in die Tischplatte darunter und Haller versuchte unter der Tischplatte das Kabel zu verfolgen. Es führte in eine Dose im Boden.

  „Wir gehen nachher noch einmal ins Büro zurück. Schauen uns da um“, sagte Haller, als die Träger gerade den Sarg mit Frau Fischer aus dem Laden manövrierten. Auch der Rechtsmediziner hatte seinen Koffer zusammen gepackt und Grosche deutete an, dass er mal kurz vor die Tür gehen würde, um mit der Fotografin zu sprechen.

  „Ich geh dann schon mal nach hinten“, rief ihm Haller hinterher. Dann ging er den Flur zurück, also den Weg, den Frau Fischer genommen hatte, um zu ihrem Schreibtisch zu gelangen. Da wo jetzt die Blutlache auf dem Boden war, da ist sie dann zusammengebrochen und wohl sehr schnell verstorben. Haller blickte sich im Büro um. Auf dem Tisch jede Menge Geschäftsunterlagen, Händlerverzeichnisse und so weiter. Nichts Auffälliges, was man nicht in einem Ladengeschäft erwarten würde. Hinter dem Schreibtisch, mit einem ziemlich ausgeleierten Bürostuhl, dessen Polster abgenutzt aussah, Blümchenmuster, wie Haller registrierte, fand Haller ein großes Bücherregal. Viele Bücher waren den Titeln nach, noch aus der DDR-Zeit. Urania-Universum, Bände von 1970 bis 1982, füllte ein ganzes Regalbrett. Darüber noch altertümliche Literatur. Französische Literatur. Roman Corteouis HomilienJean-Jacques Rousseaus, La Nouvelle Héloise in einer Ausgabe des VEB Buchverlags Leipzig von 1963, in der Übersetzung von J. G. Gelius, Leipzig 1761. Haller zog das Buch heraus und fand im Einband-Titel auf der Seite 3 eine Reihe fünfstelliger Zahlen. Er zog ein anderes Buch aus dem Regal, François-René de Chateaubriand, Rene, ebenfalls VEB Buchverlag Leipzig, 1967, übersetzt von Stephán Born, Verlag Spemann, Berlin, 1884. Und ebenfalls in diesem Buch, ähnliche fünfstellige Zahlenkolonnen. Haller stutzte. Das sah aus, als wären es Codebücher.

  „Grosche!“, rief Haller lauf vom Büro aus in den Flur zum Verkaufsraum. Grosche stand in der Eingangstür und unterhielt sich mit dieser Technikerin. Wie hieß die noch gleich? Karin Siebe. Vielleicht ein Name den man sich merken musste.

  „Ich muss wieder nach hinten“, sagte Grosche entschuldigend. „Aber ich werde Dich anrufen und dann kommst Du mal zu uns nach Hause.“

  „Aber sicher doch. Und Grüße an Deinen Chef!“

  „Er ist nicht mein Chef“, sagte Grosche verteidigend.

  „Den meine ich auch nicht. An Gregor!“

  Grosche nickte kurz und grüßte kurz und zackig mit zwei ausgestreckten Fingern der rechten Hand an der Stirn.

  „Dann mach’s gut, Karin“.

   „Was gibt es denn so Wichtiges. Hast Du was gefunden?“

  Grosche, der etwas fülligerer Natur als Haller war, kämpfte sich durch den dunklen, engen Flur nach hinten ins Büro.

  „Hier, sag mir, was Du davon hältst. Und ob es Dir nicht auch bekannt vorkommt?“

  Haller reichte ihm eines der Bücher, in dem er gerade blätterte und deutete mit dem Finger auf die Zahlenkolonne auf dem Einband-Titel auf Seite drei.

  Grosche betrachtete die Zahlenkolonne und überlegte. Dann blätterte er weiter in dem Buch und fand auf mehreren Seiten mit Bleistift unterstrichene Worte. Alles ganz gewöhnliche Adjektive, Substantive, Verben. Nichts, was irgendwie wichtig genug hätte sein können, um es zu unterstreichen.

  „Codebücher?!“, mehr brachte Grosche nicht hervor.

  „Wir müssen uns auch die anderen Räume anschauen“, sagte Haller trocken. „Irgendwo muss ja ein Computer sein“.

Kapitel 2

„Die schlimmste Kriminalstatistik gab es zu Kains Zeiten; auf einen Schlag löschte der Bursche ein Viertel der Menschheit aus.“

Gabriel Laub

Wie sehr Grosche und Haller sich auch bemühten, sie fanden weder einen Computer, noch einen Laptop in der Wohnung oder im Ladengeschäft von Frau Hermine Fischer. Sie fanden aber eine Adresse und eine Telefonnummer von Frau Fischers geschiedenen Mann Herbert, der in die Nähe von Hamburg gezogen war. Aber sie fanden auch noch jede Menge anderer Bücher, die ähnlich gekennzeichnet waren, als wären es Codebücher für irgend eine geheime Kommunikation.

  Wie Grosche schon richtig festgestellt hatte, war es aussichtslos etwas zu entschlüsseln, wenn ihnen der Hauptschlüssel zu den Codes in den Büchern fehlte. Außerdem fanden sie keinerlei Unterlagen, von denen man ausgehen konnte, sie seien verschlüsselt. Also brachen sie beide die Untersuchungen im Haus ab und gingen wieder zurück auf die Straße. In der Zwischenzeit war es die frühe Mittagszeit und die vier Polizisten, die draußen die Absperrungen bewacht hatten, hatten fleißig Adressen und Telefonnummern vom Publikum gesammelt. Haller wusste, was das bedeutete. Viele der Schaulustigen würden sich profilieren wollen und zur Geltung kommen. Deshalb würden sie jede Menge Spreu vom Weizen zu trennen haben, wenn sie die Befragung der Zeugen in Angriff nahmen.

  „Wer hat denn die Frau Fischer überhaupt gefunden?“, fragte Haller den jungen Oberkommissar von der Schweriner Schutzpolizei, die zum Kommissariat Stadt Schwerin Eins gehörte, wo auch der Polizeipräsident von Schwerin auf seinen wohlverdienten Ruhestand wartete. Das Problem war, dass durch die Querelen mit dem neugegründeten LKA bereits 1991 feststand, dass es die Kommissariate Eins und Zwo in Schwerin Stadt nicht mehr lange geben werde. Niemand hatte mehr Lust, sich nach Schwerin versetzen zu lassen und mit jedem Ruheständler, der abging, blutete die Schweriner Stadtpolizei mehr und mehr aus. Und der junge Oberkommissar sah ebenfalls schon so aus, als würde er es ernsthaft bereuen, noch kein Versetzungsgesuch nach Rostock, Parchim oder noch weiter weg, gestellt zu haben.

  Polizei-Oberkommissar Bertram zog einen kleinen Notizblock aus der Hemdtasche und runzelte die Stirn.

  „Also, die Zeugin sitzt dahinten auf der Bank, da wo auch die Kollegin daneben sitzt und heißt Barbara Leiss mit zwei ’s‘ am Ende“.

  „Und wer ist der Herr, da hinter ihr, der sich ständig zu ihr herunterbeugt?“, fragte Grosche.

  „Ein gewisser Peter Hoffmanns mit einem ’s‘ am Ende“.

  Grosche musste sich so zusammenreißen, weil es langsam ein wenig viel ’s‘ am Ende waren. Der junge Polizist musste wohl in seinem anderen Leben ein Pedant gewesen sein. Jedenfalls klappte er seinen Notizblock wieder ordentlich zu und verstaute ihn wieder in seiner Hemdtasche.

  „Gut, dann werden wir jetzt mal mit den beiden sprechen. Nehmen wir zuerst die Frau Leiss mit zwei ’s‘ am Ende?“, fragte Grosche und grinste dabei Haller an.

  „Ja, packen wir’s an“.

  Die junge Frau mit dem blonden Fransenpony und der dunkelgrünen Strickmütze im olivgrünen Bundeswehrparka saß auf einer der beiden Bänke, die der Papeterie Fischer am nächsten waren. Neben ihr saß gerade eine alte Frau, die ihr freundlich auf den Handrücken tätschelte. Grosche kam als Erster auf sie zu und sie kniff sofort misstrauisch die Augen zu. Haller hatte sogar den Eindruck, dass sich ihr Gesichtsausdruck von weinerlich zu feindlich wandelte. Gut, Grosche hatte die entsprechend einschüchternde Statur, mit seinen fast zwei Meter Körpergröße und dazu noch dem etwas beleibten Bauchumfang.

  „Frau Leiss?“, fragte Grosche recht neutral.

  „Wer will das wissen?“

  Grosche zog gleichzeitig mit Haller seinen Polizeiausweis aus dem Revers.

  „KHK Grosche, Schwerin Stadt Zwo … und das ist mein Kollege KHK Haller“, antwortete er, diesmal aber mit einem etwas freundlicheren Gesicht.

  „Es geht um die Tote, die Frau Fischer“, begann Haller.

  „Ja, was ist mit ihr?“

  Haller kam die Frage absurd vor und er war versucht, das mit einer absurden Antwort zu kontern, ließ es aber, ‚sie ist tot!‚ zu sagen.

  „Sie waren in dem Laden und haben Frau Fischer gefunden?“

  „Ich habe die Blutspuren gesehen, im Eingangsbereich, dann weiter innen auch und als ich nach hinten ins Büro kam, habe ich ihre Füße am Boden gesehen. Dann habe ich zum Handy gegriffen und habe sofort die Polizei angerufen“.

  Eine soweit schlüssige Erklärung, fand Grosche.

  „Haben Sie auch nachgesehen, wie es Frau Fischer ging? Hat sie noch gelebt?“

  „Ich weiß es nicht“, antwortete Barbara Leiss.

  „Was wissen Sie nicht? Ob Sie Frau Fischer überhaupt angesehen haben oder ob sie noch gelebt hat?“

  Die junge Frau schwieg, blickte dabei nach unten vor sich aufs Straßenpflaster und machte plötzlich Anstalten, aufzustehen.

  Haller hielt sie am Arm fest und drückte sie sanft auf die Bank zurück. Er sah, dass die junge Frau sich überfordert fühlte. Er wollte aber wissen, wie es kam, dass Barbara Leiss so früh in den Laden gegangen war. Hinter ihm gab es gerade ein Gerangel und er wurde am Rücken und an der Schulter gestoßen. Als er sich umdrehte, sah er einen etwa vierzig Jahre alten Mann, der zu Barbara Leiss gelangen wollte, aber von einem der vier Streifenpolizisten zurückgehalten wurde.

  „Du brauchst überhaupt nichts zu sagen, Barbara!“

  Grosche drehte sich auch um und gab dem Polizisten einen Wink mit dem Blick, er solle den Mann loslassen.

  „Und Sie sind?“, fragte Grosche, nachdem er sich zu voller Größe vor dem Mann aufgebaut hatte. Der Mann war mehr als einen Kopf kleiner und musste sehr weit nach oben blicken, um Grosches Quadratschädel erfassen zu können.

  „Peter Hoffmanns, ich bin ein Freund von Barbara“, antwortete er weniger lautstark, fast devot. „Was wollen Sie überhaupt von ihr?“

  Grosche griff sich den Mann und führte ihn ein wenig weiter weg von der Bank.

  „Nun erzählen Sie mir erst einmal, was Sie hier machen? Haben Sie jemanden in den Laden hineingehen und herauskommen sehen?“

  „Barbara ist da reingegangen. Sie hatte sich gewundert, dass die Tür aufstand. So früh. Und dann hatte sie den Blutfleck gesehen und mir gezeigt. Ich sagte noch zu ihr ‚geh da nicht rein!‚, aber sie ist dann trotzdem reingegangen und kam ganz bleich wieder raus“.

  „Und wo waren Sie, während Frau Leiss in dem Laden war?“

  „Na, wo wohl. Hier draußen“.

  „Die ganze Zeit?“

  „Na, wenn ich es wohl sage. Dann stimmt das auch“.

  „Gut, geben Sie mir Ihren Personalausweis und dann werde ich nachher noch einmal mit Ihnen sprechen. Warten Sie am besten da hinten hinter der Absperrung“.

  Nachdem der Mann Folge leistete, ging Grosche wieder zurück zu Haller und der Frau Leiss mit zwei ’s‘ am Ende.

  „Wie kam es, dass Sie so früh hier an dem Laden vorbei gekommen sind?“

  „Wir … also Peter und ich, wir waren auf dem Weg zum … Rathaus. Wegen der Stütze“.

  Haller hatte das Gefühl, als wäre Frau Leiss ein oder zweimal rechts oder links von der Wahrheit abgebogen. Er musste noch einmal nachsetzen.

  „Sie und Herr … ?“

  „Peter Hoffmanns heißt er“, bestätigte Frau Leiss folgerichtig. Soweit stimmte die Geschichte.

  „Peter ist mein Freund“, sie wies mit ihrem Blick auf den gut vierzig Jährigen. Doch, so fragend, wie sein Gesichtsausdruck ausfiel, als wäre er überrascht davon, was Frau Leiss gerade gesagt hatte, warf das auch für Grosche Fragen auf.

  „Wo wohnen Sie?“, fragte er den Vierzigjährigen, dessen Personalausweis er immer noch in der Hand hielt. Er reichte ihn dann zu Haller.

  „Mal hier mal dort. Ich habe im Moment keinen festen Wohnsitz“. Ein unsicheres Kichern entfuhr im. „Wie auch, ist ja alles teurer geworden“.

  Ja, dachte Haller, das konnte schon zum Problem werden. Trotzdem hatte Haller auch das Gefühl, dass die beiden mehr als nur eine zufällige Bekanntschaft beim Anblick einer Frauenleiche mit der Hermine Fischer verband.

  „Und wohin waren Sie unterwegs?“, fragte Haller diesen Peter Hoffmanns, der angeblich in der Schulstraße zu Hause war, wenn man seinen Angaben auf dem Personalausweis Glauben schenkte.

  „Stütze holen“, sagte Peter Hoffmanns knapp. „So, wie auch Barbara“.

  „Und wo kamen Sie her?“, hakte Grosche nach.

  Die beiden schauten sich fragend an und dann entschloss sich Barbara Leiss zur Antwort.

  „Wir waren bei Ihm“, sagte sie mit einem Blick auf Peter Hoffmanns. Wieder einer dieser Widersprüche, die Menschen bei einer Befragung verdächtig erscheinen ließen.

  „Herr Hoffmanns sagte doch gerade, dass er keinen festen Wohnsitz habe“.

  Grosche schüttelte den Kopf. So wurde das nichts.

  „Ich würde vorschlagen, Sie kommen jetzt zu uns aufs Revier. Dann können wir das genauer klären“, sagte Grosche noch im ruhigen Ton, drehte sich dann herum und rief laut „Kollege!“

  Ein Polizeihauptmeister, der sich gerade angesprochen fühlte, kam auf die vier zu und blickte Grosche fragend an, was denn nun Sache sei.

  „Bitte bringen Sie Frau Leiss und Herrn Hoffmanns zu uns ins Schwerin Stadt Zwo. Wir sind hier noch nicht fertig“.

  Kaum hatte Grosche das ausgesprochen, drehte sich Peter Hoffmanns blitzschnell um und verschwand hinter einer Wand aus alten Damen, die sich von hinten an das Flatterband drängten, das der Bank, auf der eben noch Barbara Leiss gesessen hatte, am nächsten war. Haller und Grosche waren so von der Flucht von Peter Hoffmanns überrascht worden, dass sie gar nicht mitbekamen, dass Frau Leiss sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte und erst als Grosche sie ebenfalls zwischen den Schaulustigen verschwinden sah, wurden sie sich gewahr, dass ihnen gerade die beiden Zeugen durch die Lappen gegangen waren.

   Als Haller und Grosche wieder im Schwerin Stadt Zwo ankamen, stellte sich ihnen Doktor Gregor Herzog auf dem Flur im Obergeschoss in den Weg.

  „Guten Tag, die Herren“, begann Doktor Herzog freundlich. „Dann haben Sie die beiden ja gefasst“.

  „Schön wär’s“, brummte Grosche. „Nüscht haben wir“.

  „Die sind uns nämlich entwischt“, bestätigte Haller. „Aber keine Sorge Herr Doktor, da die beiden stadtbekannt sind, werden sie sicher auch schnell von der Stadtpolizei aufgegriffen“.

  „Und, haben Sie die Fahndung schon raus?“

  „Auch nicht. Weil das nicht nötig ist. Beide sind nur Zeugen, zudem sind sie äußerst misstrauisch gegenüber der Polizei, was bei unserer Geschichte ja nun auch kein Wunder ist. Die Polizei als der Freund und Helfer war ja nicht mehr als ein frommer Wunsch“, beschwichtigte Grosche.

  „Das heißt, wir haben nichts?“ Doktor Herzogs gute Laune war mit einem Rutsch den Hang hinunter. „Ich muss jetzt rüber ins Schwerin Stadt Eins und soll beim Polizeipräsidenten zum Rapport antreten“.

  Beinahe wäre Haller ein ‚Das tut uns jetzt aber leid!‘ herausgerutscht. Aber er hielt erfolgreich die Klappe. Woher wusste er überhaupt davon, dass sie mit Barbara Leiss und Peter Hoffmanns sprechen wollten?

  Grosche zog sich als erster aus der absurden Szene heraus und steuerte auf die dahinter liegende Kantine zu. Haller fand, das wäre jetzt sicher keine gute Idee.

  „Ich brauche jetzt was zu Essen. Wer kommt mit?“

  Haller wusste, wenn Grosche längere Zeit nichts gegessen hatte, dann benahm er sich leicht sonderbar. Aber Doktor Herzog löste die Szene von selbst wieder auf.

  „Kümmern Sie sich drum, dass Sie die beiden hierher schaffen. Wenn Sie schon Zeugen sind, sind sie auch zu einer Aussage verpflichtet“. Dann stapfte Doktor Gregor Herzog missmutig weiter, die Treppe hinunter.

  Haller folgte Grosche in die Kantine und sah ihn wie immer, wenn er besonders viel Hunger hatte unschlüssig an der Theke stehen. Er ging zu ihm, bestellte selbst zwei Stückchen und zwei Tassen Kaffee, stellte alles auf ein Tablett.

  „Hör auf zu grübeln, Grosche. Komm mit und iss was!“

  „Ich überlege gerade, woher Herzog das wusste, mit den beiden?“

  „Wenn Herzog keine Blumenkohlohren hat, weiß ich nicht Bescheid. Er wird sicher mit einem der Streifenpolizisten gesprochen haben“.

  „Oder es hat sich jemand den Jux erlaubt, ihn anzurufen!“

  „Du meinst, da drüben in der Schlachterstraße sitzt ein Polizeispitzel?“

  „Durchaus möglich. Und der wird mit Sicherheit mehr gesehen haben, als unsere beiden durchgebrannten Zeugen“.

  „Du meinst …“

  Wie auch Haller fing Grosche versonnen an, sein Stückchen im Kaffee einzutunken und davon abzubeißen.

  „Wenn wir wissen, wer das ist, brauchen wir nur hinzugehen und freundlich anzuklopfen. Glaub mir, ich würde das schon aus ihm rausbekommen“.

  „Das haben wir eben ja gesehen. So unschlüssig wie Du vor einer gut gefüllten Auslagentheke stehst …“

  „Ich war halt einfach in Gedanken. Mich macht das jedenfalls stutzig, wie schnell sich hier alles herumspricht“.

  „Schwerin ist ein Dorf, irgend jemand von der Streife wird gequatscht haben!“

  Für Haller spielte das keine Rolle. Er wartete jederzeit auf einen Anruf aus Schwerin Stadt Eins, wo sich der Kriminaldauerdienst niedergelassen hatte, dass er Peter Hoffmanns oder Barbara Leiss irgendwo abholen könne. Er blickte auf sein Handy-Display. Doch das blieb im Moment noch dunkel.

  „Sag mir eines. Hast Du nicht auch den Eindruck, dass der Mord an Frau Fischer etwas ganz Persönliches war?“

  „Ganz bestimmt“, bestätigte Haller, der an seiner Kaffeetasse schlürfte, so als wäre der Kaffee noch heiß.

  „So ein Stich ins Herz, das erinnert mich an Carmen. Ich weiß nicht warum, aber diese Art zu töten, hat etwas mit Eifersucht und verschmähter Liebe zu tun“.

  „Du meinst, da war ein heimlicher Liebhaber in ihrem Laden?“

  „Oder ihr Ex“.

  „Haben wir den Namen und die Adresse von ihrem Ex?“, wollte Haller wissen.

  „Ja, haben wir. Wollen wir ihn anrufen. Irgend jemand muss ihn ohnehin vom Tod seiner Frau informieren“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert